22. April 2022
Anstatt Geflüchteten eine Aussicht auf faire Arbeitsbedingungen zu bieten, versuchen deutsche Arbeitgeber, sie für die prekärsten Jobs in der Logistik, Pflege und Landwirtschaft zu rekrutieren. Das ist schäbig und verantwortungslos.
Die Arbeitsbedingungen für Saisonarbeitskräfte in der Erntehilfe sind oft miserabel – das ist bekannt. Geändert hat sich wenig.
Mehr als 4 Millionen Menschen haben seit Beginn des Krieges die Ukraine verlassen, etwa 90 Prozent sollen Frauen und Kinder sein. Diese Ziffer wird fortlaufend nach oben korrigiert werden müssen. Wie viele noch flüchten werden, wohin und für wie lange, wissen wir nicht. Das hängt von der Dauer und dem Ausgang des Krieges ab. Deutschland erlebt ein böses Erwachen in der außenpolitischen Realität und ist gezwungen, seine Verteidigungspolitik neu auszurichten.
Alte Reflexe bleiben freilich erhalten. Hat da jemand »Flüchtlingskrise« gesagt? In der vierten Kriegswoche lieferte sich die deutsche Wirtschaft an der polnisch-ukrainischen Grenze schon mal einen Wettlauf um die neue Humanressource. Deutschlands rasende Honorarbotschafter hielten direkt vor Ort Ausschau nach verwertbaren Skills und schoben den erschöpften Frauen in den Erstunterkünften Arbeitsverträge unter die Nase – nach dem Prinzip »Unterschreibst du hier, nehme ich dich mit«. Die Mitarbeitenden des Großschlachters Tönnies mussten allerdings unverrichteter Dinge wieder abreisen: Der miserable Ruf ihres Arbeitgebers eilte ihnen sogar bis dorthin voraus. Sie wurden von örtlichen Flüchtlingshelferinnen beschimpft und verjagt. Doch Tönnies soll nicht der einzige Arbeitgeber vor Ort gewesen sein. Derweil werden auf Vermittlungsportalen für ukrainische Geflüchtete nicht nur Programmier und Pflegekräfte rekrutiert, sondern auch Fahrradkuriere für Firmen wie zum Beispiel Gorillas, die jüngst mit schlechten Arbeitsbedingungen und aggressivem Union Busting auf sich aufmerksam machten.
Keine Frage: Sicherlich gibt es auch viele Arbeitgeber, die ihre Angebote in erster Linie aus ehrlicher Hilfsbereitschaft unterbreiten. Und die Möglichkeit, mit der eigenen Arbeit Geld zu verdienen, um die Familie in der Heimat zu unterstützen oder das durch russische Bomben zerstörte Haus wieder aufzubauen, ist für viele Betroffene eine echte Hilfe. Richtig ist auch, dass die EU-Staaten allen Ukrainerinnen und Ukrainern den Aufenthalt und die Arbeitsaufnahme ohne bürokratische Einschränkungen erlauben. Ukrainische Geflüchtete betonen in Gesprächen immer wieder, dass sie möglichst niemandem auf der Tasche liegen möchten. Denn vielen scheint auch klar zu sein, dass die vermeintlich großzügige Aufnahme von Geflüchteten schnell zum Feigenblatt werden könnte, sobald Westeuropa Waffenlieferungen und Sanktionen nicht mehr opportun erscheinen.
Es gibt also in diesen Tagen wahrlich wichtigere Probleme als Arbeitsbedingungen und Ausbeutung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Und trotzdem sollte uns nicht egal sein, wo und wie ukrainische Geflüchtete arbeiten werden, solange sie hier sind. Denn die Erfahrungen osteuropäischer oder geflüchteter Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind in der jüngeren Vergangenheit – sehr vorsichtig gesagt – nicht immer positiv ausgefallen.
Die Pflege beklagt seit Jahren Personalmangel. Eine Lösung sieht die Branche aber offenbar weniger in besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen als in der Abwerbung ausländischer Fachkräfte, die offiziell als Hilfskräfte eingestellt, überarbeitet und mit dem Mindestlohn vergütet werden – oder noch nicht mal mit dem Mindestlohn. In der häuslichen Betreuung leisten osteuropäische Pflegerinnen oft mehrere Monate lang rund um die Uhr Pflegearbeit und Bereitschaftsdienst und werden für nur 30 oder 40 Stunden pro Woche bezahlt. Laut dem Branchenverband sind schätzungsweise 700.000 Frauen pro Jahr davon betroffen. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit dieser Praxis wurde im letzten Juni vom Bundesarbeitsgericht per Grundsatzurteil verbrieft. Geändert hat das bislang nichts. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass ukrainische Frauen vor allem in der 24h-Stunden- Betreuung oder in Heimen mit Personalnot eingesetzt werden könnten. Gerade dort sind die Arbeitsbedingungen am schlechtesten. Der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege warnt vor einer hohen Ausbeutungsgefahr und befürchtet, dass Ukrainerinnen gezwungen werden könnten, für »einen Bruchteil« des ohnehin niedrigen Lohnes zu arbeiten.
Die Ernte erledigten in Deutschland jahrelang Frauen und Männer aus Polen, später vor allem aus Rumänien. Bezahlt wird der Knochenjob oft im Akkord, häufig unter dem Mindestlohn. Leider seien diese Bedingungen selbst für die Rumäninnen und Rumänen allmählich »unattraktiv« geworden, konstatierten Bauernvertreter in den letzten Jahren immer wieder. Die Lösung? Im Rahmen bilateraler Vermittlungsabkommen mit Georgien und der Ukraine wurde nun Personal aus noch ärmeren Ländern herangeschafft, um an den alten Arbeitsbedingungen nichts ändern zu müssen. Eine dieser Arbeiterinnen war die Ukrainerin Viktoria Szolomka, die im Sommer 2020 auf einem bayrischen Gurkenhof arbeitete und sich dort mit Corona infizierte. Ihr Arbeitgeber, der es mit den Corona-Schutzregeln für seine Beschäftigten ohnehin nicht so genau genommen haben soll, meldete sie kurzerhand bei der Krankenversicherung ab, während sie mit schweren Nieren-, Herz- und Lungenproblemen monatelang im Krankenhaus lag.
Die Arbeitskräftevermittlung aus Georgien letztes Jahr war zu Ende, bevor sie richtig begann. Die ersten Erntehelfer berichteten, sie seien schockiert gewesen über ihre schlechten Unterkünfte – heruntergekommene Container, dicht gedrängte, abgewetzte Stockbetten, stinkende und kaputte Toiletten. Auch seien sie deutlich unter dem Mindestlohn bezahlt worden. Für sie war es eine Überraschung, dass Lohntrickserei durch absurde Akkordvorgaben und überteuerte Abzüge für Kost und Logis in Deutschland gängige Praxis sind. Die Arbeiterinnen und Arbeiter machten ihrem Ärger in der georgischen Presse Luft. Nach diesem Skandal wurde die Arbeitskräftevermittlung von georgischer Seite erst einmal eingestellt. Aktuell verklagen die Betroffenen den Arbeitgeber, einen Obstbauern vom Bodensee, auf den gesetzlichen Mindestlohn und den georgischen Staat, der sie aus ihrer Sicht falsch informiert und der Ausbeutung ausgeliefert hat, auf Schmerzensgeld.
Der Bauboom des letzten Jahrzehnts wäre ohne osteuropäische Arbeitskräfte nicht möglich gewesen. Wer auf eine Baustelle fährt und die Leute in ihren Sprachen zu ihren Arbeitsbedingungen befragt, wird Berichte über Scheinselbständigkeit, Sub-Subunternehmerketten und Arbeitszeitmanipulationen zu hören bekommen. Grobe Missachtungen des Arbeitsschutzes gehören genauso zur Normalität wie Heuern-und-Feuern. Schwer verunfallte, teils lebenslänglich arbeitsunfähig gewordene osteuropäische Bauarbeiter, die von ihren Arbeitgebern kurzerhand vor die Tür gesetzt werden und nach der Krankenhausentlassung unter der Brücke schlafen müssen, treffen die Beratungsstellen und die IG BAU täglich an. Die steigenden Heizkosten lassen die Nachfrage nach Sanierungen explodieren, die Branche kann gar nicht genug Arbeiter rekrutieren. Den allgemeinverbindlichen Branchentarifvertrag haben die Arbeitgeber in diesem Jahr trotzdem gekündigt – nun gilt für die Branche nur noch der gesetzliche Mindestlohn.
Überhaupt hört man von mobilen Beschäftigten oft, sie hätten sich niemals vorstellen können, dass folgenlose Rechtsmissachtung in Deutschland in dem Umfang möglich sei, wie sie es selbst erlebt haben. In der Fleischindustrie musste das Outsourcing an Subunternehmen letztes Jahr gesetzlich verboten werden, da weder die Kontrollbehörden noch die Konzerne in der Lage waren, die völlig ausgeuferten Ausbeutungsstrukturen in den Griff zu bekommen. In der Paketbranche, im Straßentransport und in der Logistik existieren Subunternehmerstrukturen weiterhin. Das gilt übrigens auch für die Gebäudereinigung, die ebenso direkt in der Ukraine Personal rekrutieren soll, indem sie Menschen im Gegenzug für ihre Arbeitskraft eine Mitfahrgelegenheit und Unterkunft anbietet.
Geschichten über tägliche Ausbeutung könnte man noch beliebig viele erzählen. Sie sind schlimm, angesichts der täglichen Grausamkeiten in der Ukraine aber auch banal. Doch wenn heute wieder einmal beteuert wird, aus den Erfahrungen früherer Krisen zu lernen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass dieser verdammte Opportunismus, der Arbeit – ob auf dem Bau, in der Landwirtschaft oder in der Altenpflege – so billig wie möglich halten will, uns mittelfristig um die Ohren fliegen wird. Viele ukrainische Geflüchtete werden nun auf dem deutschen Arbeitsmarkt den westeuropäischen Rechtsstaat zum ersten Mal direkt erleben. Sie nicht zu Dienstmädchen und Akkordknechten zu degradieren, um hausgemachte Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu stopfen, ist nicht nur eine soziale Verpflichtung, es ist auch in unserem ureigenen Interesse.
Szabolcs Sepsi berät bei Faire Mobilität Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa zu Arbeitsrecht. Das Beratungsnetzwerk Faire Mobilität wird vom Bundesarbeitsministerium und den Gewerkschaften gefördert und vom DGB Bundesvorstand verantwortet.
Szabolcs Sepsi berät bei Faire Mobilität Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa zu Arbeitsrecht. Die Fleischindustrie ist seit 2013 einer der Schwerpunkte seiner Arbeit. Das Beratungsnetzwerk Faire Mobilität wird vom Bundesarbeitsministerium und den Gewerkschaften gefördert und vom DGB Bundesvorstand verantwortet.